Das Projekt Spielfeldschnitte

Pünktlich zur Fußball Europameisterschaft der Männer 2008 konnte man in Filialen einer großen deutschen Bäckereikette ein Kuchenstück erwerben, das sich als Alternative zu Bier in Plastikbechern verstand: ein Sahnetörtchen namens Spielfeldschnitte. Das Projekt Spielfeldschnitte nahm diese Beleidigung, diese Herausforderung und diesen Namen an. Seitdem verstehen wir uns als kreative und humorvolle Begleitung der deutschen Fußballnationalmannschaft und als längst fälligen Beitrag zu einer Frauenfußball-Kultur. Wir bieten nicht nur messerscharfe Analysen zu allen Länderspielen, wir sind die kulturwissenschaftliche Stimme in der Stille des Blätterwaldes, wir sind das Theater, das um den Frauenfußball aufzuführen ist, wir wollen die Welt verändern und schreiben darüber. „My (B)Log has something to tell you.“
(The Log Lady, Twin Peaks)

Donnerstag, 22. April 2010

Im Abseits: Hans Ulrich Gumbrecht über Kreativität im Frauenfußball

Am 8. April 2010 erscheint in DER ZEIT unter dem Titel "Das Elend der Perfektion. Sind Fußballer eigentlich kreativ?" ein Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht. Gumbrecht ist Literaturwissenschaftler und lehrt seit 1989 an der Stanford University.
Neben zentralen Publikationen wie "Diesseits der Hermeneutik. Zur Produktion von Präsenz" oder "Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten" wird Gumbrecht vor allem durch "Lob des Sports" zu einem hochkarätigen Gesprächspartner für einen kulturwissenschaftlichen Blick auf Frauen- und Männerfußball.

Spielfeldschnitte: Lieber Herr Gumbrecht, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit zu diesem Gespräch nehmen!

Hans Ulrich Gumbrecht: Aber gerne. Ich möchte dem auch sofort voranstellend sagen, dass ich ein großer Fan des Frauenfußballs bin. Ich weiß nicht, ob Sie mal in den Texten gelesen haben, in denen ich begeistert über den Frauenfußball spreche.

Spielfeldschnitte: Ich kenne Ihre lobenden Worte aus „Lob des Sports“.

Gumbrecht: Da weiß ich gar nicht mehr genau, was ich da geschrieben habe. Also ich denke, dass zumindest von ästhetischen Gesichtspunkten her der Frauenfußball interessanter ist als der Männerfußball.

Spielfeldschnitte: Ach, wirklich?

Gumbrecht: Ja, wirklich! Das wollte ich warnend vorausschicken, so dass Sie nicht denken, ich sag das jetzt um Ihnen eine Freude am Samstagmorgen zu machen. Ich meine, ich will Ihnen natürlich auch gerne Freude am Samstagmorgen machen. Aber es ist tatsächlich so. Es kann sein, dass es in „Lob des Sports“ auch schon steht. Das glaub ich erstens tatsächlich und zweitens steht das auch irgendwo. Aber das ist ja auch egal. Also, ich kann´s ja jetzt noch mal sagen.

Spielfeldschnitte: Was ist am Frauenfußball für Sie ästhetischer?

Gumbrecht: Naja, ich meine der Männerfußball hat natürlich in der ganzen Athletic Performance - also Schnelligkeit und Härte in der durchschnittlichen Qualität der Spieler - so ein Level erreicht, wo die eingefleischten Fußballfans sagen, das wird immer besser, wird immer besser, wird immer besser. Ich muss sagen, ich langweile mich. Ich langweile mich mittlerweile oft im Stadion beim Männerfußball. Das ist zwar alles gut und die einzelnen Spieler sind gut, und jede Bundesligamannschaft würde heute jeden Weltmeister von vor zwanzig Jahren schlagen, das steht außerhalb jedes Zweifels. Aber dadurch, dass diese Störungsfähigkeit schon bei der Ballannahme und die taktische Vorbestimmung des Spiels und überhaupt auch der Level von taktischer Reflexion schon so hoch ist, denke ich gibt es nur noch wenig Freiräume für Überraschungen. Das Interview zum Thema Kreativität kam zu einer schlechten Zeit, nämlich in der Messi Woche, und Messi ist tatsächlich in der Hinsicht ein Phänomen. Dann schießen auch mal Robbery also Ribery und Robben ein schönes Tor. Aber insgesamt finde ich verzehren sich die Männerspiele in einer beständigen wechselseitigen Neutralisierung. Der negative Faktor ist dann, auf der einen Seite die Ballsicherung. So wie dann die Bayern vor einigen Jahren vor der Abwehr von Manchester herumspielen wie im Handball. Und auf der anderen Seite frühes Stören, Lucio bei Inter zum Beispiel. Das hat ein Level an Perfektion erreicht, der der ästhetischen Erfahrung, der Schönheit des Spiels meine ich, nicht nutzt. Mein Argument wäre, dass so diese Teleologie unterstellt wird: je schneller desto besser und desto schöner. Das ist nicht wahr. Mein Vater sagte immer, der Klinsmann ist wie ein Leichtathlet, der zufällig einen Ball hat. Und trifft ihn auch manchmal, manchmal auch nicht. Mir hat neulich jemand auch als Reaktion auf dieses Zeit-Interview geschrieben, wie altmodisch ich doch sei und ich würde wohl noch von den Zeiten schwärmen, wo Beckenbauer und Maradona wie Pfaue durchs Mittelfeld gelaufen sind. Naja, ein bisschen schon. Und jetzt will ich nicht damit sagen, dass sie alle Fußballerinnen Pfauinnen sind. Aber ich denke, dass die Fähigkeit ab und an mit einem schönen Pass, mit einem schönen Dribbling individuell was zu gestalten, die Fähigkeit sozusagen überraschenderweise nach vorne zu spielen - die ist möglicherweise dadurch, dass der Frauenfußball, das soll nicht beleidigen, oft athletisch und auch vom Vorhandensein vieler vieler sehr sehr guter Spieler nicht so top ist, eher gegeben. Weswegen der Frauenfußball interessanter ist. Das ist also ein Paradox.
Das ist kein Wermuthstropfen, aber es ist ja auch klar. Es spielen unendlich mehr Männer Fußball, dadurch ist das athletische Niveau höher. Aber das ist auch der Punkt: dass bedeutet nicht, dass das Spiel schöner anzuschauen ist. Meine Universität Stanford zum Beispiel ist sehr gut im Frauenfußball. Die sind auch im Männerfußball nicht schlecht. Aber Männerfußball spielt in den USA überhaupt keine Rolle. Frauenfußball ist populärer. Wenn ich mich also frage, wo ich hingehe, wenn ich überhaupt am Sonntag nach dem American Football am Freitag noch zum Fußball gehe, dann gehe ich zum Frauenfußball. Und das ist eine gute Situation, weil die sind beide nicht schrecklich populär – I care about both – es ist beides an meiner Universität, es sind bei beidem viele Studenten, die ich kenne. Sagen wir mal die Frauen sind insgesamt national etwas besser, aber ich geh einfach lieber hin, um es mal so banal zu sagen, weil ich da besser unterhalten bin. Und das ist mein Argument, von dem ich dachte, das könnte eine Freude für Sie sein am Samstagmorgen.


Spielfeldschnitte: Ja, das ist tatsächlich auch eine Freude!

Gumbrecht: Da kann man sagen, das ist altmodisch. Ja gut, ist mir total egal. Also ich weiß nicht, ob Sie das je gesehen haben, Aufzeichnungen von der ersten brasilianischen Weltmeistermannschaft 58. Mit diesem Angriff Garrincha, Didi, Vava, Pele mit siebzehn Jahren und Zagallo. Oder wenn ich, es war glaube ich 59, an dieses Europacup Finale Real Madrid gegen Eintracht Frankfurt denke - 7:3. Da muss ich sagen, das sehe ich lieber, als nicht nur heutige Bundesliga, auch die Europameisterschaft. Wie viele gute Spielen gab es bei der letzten Europameisterschaft? 0,5. Das einzige gute Spiel oder interessante Spiel, war Deutschland gegen die Türkei, weil die Deutschen eigentlich so von der Rolle waren, dass was Überraschendes passiert ist. Aber das Endspiel war tödlich und das Endspiel war tödlich, obwohl Spanien eine gute Mannschaft ist. Sie erinnern sich, dieses 1:0. So was von langweilig. Weil auch klar war, die Deutschen können 360 Minuten spielen, würden nie ein Tor schießen. Die Spanier würden aber auch keins schießen. Ich habe da im ORF zum Beispiel Spanien gegen Italien im Halbfinale kommentiert, das sind auch vom Potential her zwei großartige Mannschaften, aber das war so was von Neutralisierung. Und da musste es dann natürlich auf Elfmeterschießen hinauslaufen. Bei dem Spiel habe ich dann gesagt: man muss jetzt hier 120 Minuten warten um das einzig Interessante, nämlich dieses Elfmeterschießen zu sehen. Und ich liebe nicht Elfmeterschießen. Der Casillas, der Torwart von Real Madrid, der großartig ist, der hat ein paar tolle Paraden gemacht. Aber das Spiel war tödlich. Sie sehen, dass mir die Worte nicht fehlen, aber mir fehlten die Worte.

Spielfeldschnitte: Ich finde es immer sehr interessant, wie dann bei Spielen mit so großer Publicity ein riesiger Rattenschwanz dranhängt, wie zum Beispiel in dem EM Finale Spanien-Deutschland - wie eng das noch zusammenhing mit der Euphorie von 2006. Wie wenig da dann mit dem Spiel zu tun hat, sondern mehr mit der Geschichte, die da noch hintersteht.

Gumbrecht: Geschichte und auch die unendlichen Interviews und Kommentare über Taktik und Dies und Jenes. Man muss ungeheuer viel Staub aufwirbeln, um davon abzulenken, dass diese 90 Minuten meistens wenig hergeben. Ich erinnere mich bei der Olympiade in Peking, da hat Deutschland gegen Brasilien gespielt, die Frauen. Und da kam ich gerade in Sao Paolo an, das Spiel war überall auf den Monitoren und ich musste auf die Zollkontrolle warten. Ich war so fasziniert, dass ich nicht gemerkt habe, als ich dran war mit meinem Pass. Das war wirklich wunderschön, ich weiß auch gar nicht mehr, wer gewonnen hat. Das passiert mir oft bei Spielen, die ich toll finde, dass ich am Ende gar nicht weiß, wer gewonnen hat. Nicht dass es nicht wichtig wäre. Aber da haben die Formiga zum Beispiel, diese brasilianische Mittelfeldspielerin, und einige von den deutschen Spielerinnen – das war großartig! Ich behaupte, dass der Männerfußball ästhetisch seine größte Zeit so späte 60er, frühe 70er gehabt hat. Die einzige deutsche Nationalmannschaft, die wirklich schön gespielt hat, war die von der Europameisterschaft 72. Die haben 1972 in Brüssel die Europameisterschaft gewonnen im Finale 3:0 gegen die Sowjetunion. Damals war die Europameisterschaft noch relativ klein im Vergleich. Nur 8 Mannschaften. Und Netzer hat da vielleicht überhaupt insgesamt das Beste gespielt, was er je in der Nationalmannschaft gespielt hat. Dann 74 die Weltmeisterschaft war schon ein furchtbares Hick-Hack. Die Mannschaft, die kreativ und gut war, nämlich Holland, hat dann schon typischerweise im Endspiel gegen Deutschland verloren. Es wird auch nicht genannt in Deutschland, warum die verloren haben. Die haben verloren, weil es noch keine gelb-rote Karte gab. Der Berti Vogts hat den Cruyff 28-mal gefoult, beim ersten Mal im Strafraum und die folgenden 27-male immer kurz vorm Strafraum. Und dann haben sie halt gewonnen. Also ich seh jetzt nicht die Frauen und geh zurück in die Vergangenheit. Aber ich würde sagen schon in einem Einzelspiel gibt’s meisten mehr Spielerinnen, die so eine Protagonisten-Rolle spielen im interessanten Sinne. An die ich mich auch erinnern kann. Wow, die hat das und das gekonnt. Oder es gab den Spielzug, oder den Abschluss. Während bei den Männern ich dann eine graue Erinnerung habe an irgend so ein Kollektiv, das One-Touch-Soccer gespielt hat und vor allem nichts falsch machen wollte.

Spielfeldschnitte: Die Tradition, den Ball vor dem Strafraum hin und her zu schieben kann man ja wirklich dann teilweise mit Handball vergleichen.

Gumbrecht: Ja, total. Ich meine, die sind toll, es ist nicht die Frage, dass die nicht was können. Bloß, der Punkt ist, dass das beständige Steigern der physischen und athletischen Anforderungen, die sicher ständig größer werdende Zahl von guten Spielern, die sich wechselseitig neutralisieren, und vielleicht auch wie viel mittlerweile an Finanzen drinsteckt, macht das ganze Spiel sehr, sehr vorsichtig. Die oberste Maxime ist: keine Fehler machen.

Spielfeldschnitte: Ich hab manchmal das Gefühl beim Frauenfußball, dass weil die Entwicklung mit dem Anspruch nach Steigerung der Professionalität einhergeht, dass der Männerfußball da schon ganz schön Vorbild steht. Und dass dann auch die dort vorherrschenden Spielsysteme mit dem vorsichtigen Annähern, Hin-und Herpassen, One-Touch, eine große Rolle spielen. Was denken Sie dazu auch hinsichtlich Ihrer Erfahrungen aus Amerika?

Gumbrecht: Naja, gut, ich steck so nicht drin, ich interessiere mich in Amerika vor allem für American Football und Eishockey. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, bei American Football können Frauen im Prinzip teilnehmen. Nicht im Prinzip, es gibt einfach keine Aufteilung in Männer-Sport und Frauen-Sport. In den College-Ligen gibt es dann ab und an Frauen in den American Football-Teams. Aber das nur als Fußnote.

Spielfeldschnitte: Es gibt tatsächlich Frauen, die mitspielen?

Gumbrecht: Es gibt vor allem keine Trennung. Ob der American Football Spieler unter seinem Helm Mann, Frau, Hermaphrodit oder sonstwas ist, spielt keine Rolle. Und es gibt tatsächlich, meistens bei Positions, die viel Skill verlangen, das Kicken zum Beispiel, oder bestimmte Positionen einen Ball zu fangen, immer mehr Frauen, die das auch spielen. Und da wird nicht gesagt, dass ist jetzt das Frauenteam. Bei der University of Colorado oder den Baltimore Ravens, da spielen dann auch 3 Frauen im Team. Das ist möglich. Das American Frauenfootball zu nennen wird es nicht geben. Aber jetzt zurück zu ihrer Frage, denn dass ist eine sehr interessante Frage. Ich denke, dass es natürlich besser wäre, wenn man es erlauben würde, dass sich der Frauenfußball genuin, also nach seinen eigenen Entwicklungsrhythmen, entfaltet. Es ist ja auch nicht so, dass man das alles langfristig entscheiden kann. Man kann ja nicht sagen, die Männer sollen wieder so spielen wie ´70. Sie spielen halt wie sie spielen heute. Und das hat seine internen Logiken. Aber die würden natürlich nie daran denken jetzt so spielen zu wollen wie die Frauen. Und in der Hinsicht - auch gar nicht aus politischen oder politisch korrekten Gründen - würde ich sagen, wäre es eigentlich interessanter zu versuchen die intrinsischen Bewegungs- also Entwicklungstendenzen im Frauenfußball zu beobachten. Ich kann Ihnen gleich ein Beispiel nennen: der Frauenbasketball heute, der im College bei unseren Studenten eine große Rolle spielt, der hat eine total andere Ästhetik als der männliche. Die spielen auch auf einen Korb, aber es ist ein sehr anderes Spiel, und das finde ich sehr attraktiv. Da gehe ich oft zu beiden Teams, an meiner Universität sind die Frauen auch deutlich besser. Die Männer sind so ganz gut, die Frauen sind aber immer Top 4 oder so. In dem Fall finde ich übrigens Männerbasketball schöner, aber das ist ja gar nicht der Punkt. Die Frauen spielen härter, also relativ härter, das Spiel hat sichtbar eine höhere physische Intensität, möglicherweise weil die Schusssicherheit nicht ganz so groß ist. Ist ja auch egal warum. Aber Frauenbasketball, dass will ich noch mal sagen, sieht anders aus als Männerbasketball, hat andere Strategien. Hat eine deutlich geringere Punkteausbeute, was nicht negativ ist. Das ist eher ein Problem im Männerbasketball, dass die so viele Punkte machen, so dass jeder einzelne Korb eigentlich nicht mehr wichtig ist. Aber es kommt ja auch gar nicht drauf an besser oder schlechter. Es gibt da eine genuin eigene Entwicklung und das finde ich ganz faszinierend. Also ich würde jetzt vorerst nicht die Regeln ändern, wenn ich Fifa Präsident wäre. Aber dass man nicht dauernd die Frauenfußball-Trainer aus dem Männerfußball einführt oder deren größtes Eros ist jetzt so zu spielen, wie die Männer, das fänd ich sehr wichtig. Vorausgesetzt vom ästhetischen Standpunkt. Weil Sie das vorhin angedeutet haben, ob die jetzt Profis werden oder nicht, die Frauen, da würde ich sehr amerikanisch reagieren, wenn der Markt dafür da ist und die Frauen können was verdienen, warum sollen sie denn nichts verdienen. Also ich weiß gar nicht wo in Italien eine von diesen Brasilianerinnen zum Beispiel eine Menge Geld verdient, dass ist ja schön. Wenn die Leute irgendwas können, und sie können Geld damit verdienen, ist mir total recht. Ich glaube auch nicht, dass Professionalisierung und Ästhetik von irgendwelchen Sportarten viel miteinander zu tun haben. Professionalisierung kann manchmal die Ästhetik steigern und manchmal die Ästhetik zerstören. Ich glaube nicht, dass man das so voraussehen kann. Aber der Punkt der genuinen Entwicklung, also zu sehen: wie entwickelt sich die Frauenfußball, dann darauf zu achten und das zu stärken, das komplexer zu machen. Dass finde ich sehr interessant.  

Spielfeldschnitte: In Deutschland ist der Ruf nach Professionalität sehr groß, gerade weil die Vereine immer noch sehr im Schatten der männlichen Profiteams stehen. In Amerika wird das Thema eigentlich viel selbstverständlicher gehandhabt wird, durch die eh schon etablierte College-Kultur. Jetzt wird mit der Profiliga auch noch eine zusätzliche Möglichkeit geboten, dass etwa viel mehr internationale Spielerinnen in Amerika spielen können und sich eine Fußballkultur vielleicht auch mehr durchmischt. Wird das auch Auswirkungen auf die deutsche Frauenfußball-Kultur haben?

Gumbrecht: Ich glaube es ist deswegen schwer Sport in den USA mit Sport in Europa zu vergleichen, und das betrifft jede Sportart, weil es prinzipiell College gibt. College ist nicht nur der Nährboden aller Sportarten, es gibt ganz selten Sportler, die nicht irgendwie aus dem College hervorgegangen sind. American Football und Basketball hat jedes Wochenende mehr Zuschauer auf dem College, also College zieht mehr Zuschauer an, als die Profis. Das Geld wird dann so verwendet, dass wenn sie einen Überschuss machen, das Geld an die Universität zurück geht und wenn sie keinen Überschuss machen wird es halt verwendet um den laufenden Spielbetrieb zu finanzieren. Ich denke doch auch, dass die meisten amerikanischen Nationalspielerinnen im Fußball aus dem College kommen. Und die Profiliga, die existiert, aber existiert auch nicht so richtig gut. Der Punkt den ich machen will ist dadurch, dass es College gibt, gibt es schon immer eine große nationale Präsenz ohne dass es eine Profiliga gibt. Und deswegen müsste man sagen, wenn man in Deutschland eine solche Präsenz wollte, müsste man tatsächlich professionalisieren. Aber da kann eigentlich jede Sportart in Amerika relativ gelassen sein, weil sie immer eine Präsenz hat. Wenn zum Beispiel die Frauenbasketballliga nicht existieren würde, gäbe es immer noch die sogenannte March Madness, die College Basketball Championships, und im März guckt man nichts anderes an als das. Und zwar mittlerweile 40-60 Prozent, also 40 Prozent auch Frauen. Und das waren vor 22 Jahren keine 20 Prozent. Dass das mittlerweile 40 Prozent sind, hat viel damit zu tun, dass das Spiel sich in eigener Weise entwickelt hat. Die Profiligen, dass ist mein Eindruck mit der amerikanischen Frauenfußball Profiliga, die können auch Kontraproduzent sein, wenn die nämlich so anämisch sind, also wenn die nicht leben können und nicht sterben können. Dann ist das ja eigentlich schlecht für die Reputation des Sports. Das wäre dann so wie, wenn man dauernd sagt, was ja wahr ist, dass die besten Frauenmannschaften natürlich hoffnungslos gegen die besten Männermannschaften verlieren würden. Das ist so, aber wenn ich mir jetzt Frauenfußball anschaue und denke dauernd darüber nach, dann machts mir keinen Spaß mehr. Ich muss das jetzt auch nicht bewusst ausblenden und brauche einen Psychoanalytiker, aber das ist nicht das, worüber ich nachdenken, wenn ich mir Frauenfußball anschaue. Ich denke auch nicht, dass ich jetzt am Sonntag zu den Mädchen gehe und nicht zu den Jungs, damit ich jetzt ein politisch korrekter Professor bin, nein, weil ich mehr Spass habe, dem zuzuschauen. Da müsste man jeweils unter den nationalen Bedingungen sehen, was da die größere Chance ist. Ich habe ja die ganze Zeit schon indirekt gesagt, ohne es auszusprechen, ich denke eine große Chance für den Frauenfußball ist aktiv auf Ästhetik zu setzen. Denn wenn sie aktiv auf Leistung setzen, dann werden sie immer unterlegen sein. Da sind die Männer einfach immer besser. Aber wenn man sagen würde, man sieht da eine bestimmte individuelle Fähigkeit, die können sich noch entfalten, das Spiel hat einen anderen Rhythmus, eine andere Dramatik. Möglicherweise - das ist nicht was mich schrecklich interessiert - eine andere Psyche, das könnte auch sein. Also darauf zu setzen und erstmal zu sagen, guckt euch das Bestimmte an. Nicht weil ihr auch mal Mutti anschauen sollt, oder die Schwester anschauen sollt. Sondern weil das ein Sport ist, der sich auf eine andere Weise entwickelt. Ich bin ein 62 jähriger alter Mann aber meine besten Erinnerungen an den Männerfußball, liegen näher am heutigen Frauenfußball, als am heutigen Männerfußball. Das steht auch in dem Buch. Das sage ich jetzt nicht um freundlich zu sein. In Klammern fällt mir grade ein: in der Hinsicht ist Messi natürlich ein totales Phänomen. Das ist der einzige Ausnahmefußballer in dieser Welt, nicht nur erfolgreich im ästhetischen Sinn in dieser athletisch total hochgeputschten Welt des Fußballs. Einer, der also nicht 1,80 groß ist, sondern höchstens 1,64 und der von seiner ganzen Physik, also von den ganzen Körpervorraussetzungen her eigentlich eher in den Frauenfußball passen würde. Das ist interessant. Ich meine, dass ist insofern interessant nicht, dass man sagen muss, gute Männer müssen jetzt immer klein sein, aber insofern, dass das möglich ist. Das kommt mir nur jetzt in unserem Gespräch.

Spielfeldschnitte: Aber wenn sie über Ästhetik sprechen, wäre das zum Beispiel was, was sich auch unter dem Begriff Kreativität finden würde?

Gumbrecht: Ja sicher, klar. Also, wenn Sie mit Kreativität meinen ob während eines Spiels etwas Überraschendes passieren kann, ja, dann bin ich absolut für Kreativität und dann finde ich, dass Frauenfußball kreativer ist. Wenn Sie mit Kreativität das Potential meinen, dass sich langfristig etwas verändert, was dann den ganzen, also Frauen- und Männerfußball beeinflussen wird, das könnt ich nicht sagen. Da ist eher die Wahrscheinlichkeit, dass der Männerfußball dominiert. Wie Sie ja auch gesagt haben, dass wenn sich der Männerfußball so entwickelt, dass dann viele Frauentrainer versuchen so zu spielen. Ohne dass das vielleicht im besten Sinne des Frauenfußballs ist.

Spielfeldschnitte: Ich frage auch deswegen noch mal nach, weil ich an dieser Stelle den Begriff Ästhetik sehr spannend finde. Ich verstehe das jetzt so, dass Kreativität etwas ist, was unter einen Oberbegriff wie Ästhetik fallen kann, aber Ästhetik eigentlich noch mehr bedeutet, als kreativ zu sein.

Gumbrecht: Also, ich habe die Behauptung in dem Buch, dass man letztlich nicht zu Sportveranstaltungen geht und vor allem nicht zu Mannschaftssportveranstaltungen, um die eigene Mannschaft gewinnen zu sehen. Das ist zwar schön, ich möchte morgen, dass Borussia Dortmund gegen Hoffenheim gewinnt. Aber wenn ich jetzt bei dem Spiel wäre und es ist ein ganz tolles Spiel und sie würden verlieren, wäre mir das langfristig lieber, als ein mieses Spiel, wo sie Eins zu Null gewinnen. Und dafür können Sie zwei starke empirische Belege nennen. Nämlich erstens, dass es weltweit gesehen eine ganze Menge von Mannschaften gibt, die ungeheuer populär sind, die dauernd verlieren. Die zwei besten Beispiele sind im japanischen Baseball die Hanshin Tigers, von den Zuschauern her das erfolgreichste Team der Welt. Die haben seit den 30er Jahren nichts mehr gewonnen. Und im Amerikanischen Baseball ist die populärste Mannschaft nicht die New York Yankees, sondern die Boston Red Sox. Und die Boston Red Sox hatten seit 1917 keine World Series mehr gewonnen, haben jetzt in den letzten 5 Jahren zweimal gewonnen und sind seitdem auch etwas weniger populär geworden. Bayern ist ja auch nicht die populärste Mannschaft in Deutschland. Das ist das Eine und der für mich schlagenste Beweis ist, dass rein empirisch, also unter Männern deutscher Herrkunft meiner Generation, das mit Abstand populärste Spiel der deutschen Nationalmannschaft, na raten Sie mal welches, ist?

Spielfeldschnitte: ... 74?

Gumbrecht: Nee, das war furchtbar! Entsetzliches Rumgegurke! Das Halbfinale 1970, das sie in der Verlängerung gegen Italien 3 zu 4 verloren haben. Das war ein unglaublich gutes Spiel. Diese berühmte Dramatik. Da sind die Leute noch wie Pfaue durchs Mittelfeld stolziert, aber das war schön. Sicher, wenn Sie die heute gegen FC Köln spielen lassen, verlieren die, aber who cares. Das werde ich nie vergessen. Sicher gibt es auch für die heutige Generation Spiele, die sie nie vergessen. Ich meine, man kann ja sowieso ästhetische Sachen nie absolut und objektiv beweisen, ich will nur ein Argument machen, dass man sich entpflichtet immer diesen One-Touch-Soccer der heutigen Champions League für den schönsten zu halten, dass ist einfach nicht wahr. Natürlich spielt Ivory Coast auch unendlich schöner als Deutschland und Ghana auch, auch wenn sie bei der Weltmeisterschaft eine Klatsche kriegen sollten. Auch bei dem Länderspiel neulich, da fand ich die Elfenbeinküste soviel schöner als die Deutschen. War überhaupt kein Vergleich. Und in dem Sinn - wiederum muss man immer betonen nicht aus politisch korrekten Gründen - guck ich mir lieber Frauenfußball an.

Spielfeldschnitte: Was sind dann Faktoren, die ästhetisches Spiel eher begünstigen?

Gumbrecht: In meinem Buch habe ich zu verschiedenen Sportarten verschiedene Thesen. Was am Mannschaftssport fasziniert, ist die Emergenz des schönen Spielzugs. Wobei zu einem schönen Spielzug die Temporalisierung gehört: der beginnt zu vergehen, in dem Moment wo er beginnt sich zu formieren. Ob der dann mit einem erfolgreichen Torschuss oder einer erfolgreichen Parade endet ist dann fast egal. Aber da gibt’s auch eine gewisse Ökonomie, wenn’s zu viele gibt, macht`s vielleicht keinen Spaß mehr. Die Abwehr kann auch eine Rolle spielen, weil ein Spielzug ja noch schöner ist, wenn die Abwehr gut ist. Wenn die Abwehr ein offenes Scheunentor ist, macht`s keinen Spaß. Das wäre für mich das zentrale intentionale Objekt; dass die Hoffnung, dass es einen schönen Spielzug gibt, gerade Gegenstand der Faszination ist: guck mal wie wunderbar jetzt die Flanke nach rechts, und dann hat die kurz gedribbelt, und dann hat die in die Mitte geflankt und dann voll getroffen den Ball, wunderbarer Fallrückzieher, oder so was. Dann finde ich klar ein Drama, ein knappes 4 zu 3, spannender als ein 5 zu 0. Das spielt auch eine Rolle. Es kann kein schönes Spiel geben, ohne zum Beispiel auch mal eine lange Ballstafette. Und das wird natürlich durch diese enorme Intensität und Nervosität des One-Touch Fußballs minimiert, es ist weniger als früher.

Spielfeldschnitte: Denken Sie, dass das in einem Spielsystem wie der Vierekette schon implaniert ist? Dass man zum Beispiel keine zentrale kreative Instanz wie den Libero mehr hat?

Gumbrecht: Das hat angefangen historisch zum Beispiel mit Inter Mailand, in den 70er Jahren eine der ersten Mannschaften, bei der die Verteidiger mit offensiv gewesen sind. Es gab einen italienischen Verteidiger. Giacinto Facchetti hieß der. Zusammen mit einem brasilianischen Außenstürmer der Jair hieß, war er das erste Paar, bei dem bei jedem Angriff - der hatte halt eine Lunge wie verrückt - der Verteidiger mit nach vorne ging und auch geflankt hat. Man wusste nie ob jetzt der Linksaußen, wie das früher hieß, oder der Verteidiger mit vorging. Das war die eine Variante, da haben die anderen Spieler noch nicht gedeckt. Und dann kam der holländische Fußball-Total, in den 70er Jahren, Cruyff und diese ganze Generation, wo dann auch die Stürmer mit Abwehr gespielt haben. Der berühmte Satz ist ja auch: die Abwehr beginnt in dem Moment, in dem die Gegnerische Mannschaft in der eigenen Abwehr den Ball abfängt. Das heißt also, sie fangen sofort an, sich defensiv zu verhalten gegenüber dem Mittelfeldspieler oder dem Abwehrspieler der anderen Mannschaft, der den Ball hat. Dagegen ist nichts zu sagen. Das lässt sich heut im Männerfußball nicht vermeiden. Aber das bedeutet natürlich, dass dieser Moment wie früher Maradona durch das Mittelfeld geht nicht mehr so möglich ist. Wie der guckt, das war sehr wichtig, dass die nicht dauernd auf den Ball gucken, und dann kam irgendein völlig überraschender Pass. Während heute gibt es zwar noch lange Pässe, aber nur auf ganz sichere Positionen. Diese langen, genialen Pässe, vom Libero Beckenbauer oder vom Mittelfeldspieler Maradona, so ein Spiel kann sich heute fast nicht mehr entfalten, weil dem schon immer einer auf den Zehen steht. Ich glaube dass die ungeheuer durchathletisierten Bedingungen des heutigen Fußballs, das was ich für die zentrale Faszination halte, nämlich den schönen Spielzug, der sich entfaltet, ich sage nicht unmöglich machen, aber unwahrscheinlicher machen. Wenn ein solcher in einem Spiel oft gelingt, zum Beispiel letztes Jahr das Champions League Finale, Barca gegen ManU, bevor dann Barca das Eins Null schoss, die ersten 10-12 Minuten, da dachte ich vielleicht ist das eine neue Art von Fußball, aber leider hat sich das nicht bewahrheitet.

Spielfeldschnitte: Unter den Gesichtspunkten ist es ja auch sehr interessant, dass Silvia Neid gerade probiert Spielerinnen wieder flexibler zu machen, sie nicht nur starr auf die eine Außenverteidiger Position zu trainieren, sondern auch flexibler zu öffnen. Das ist ja für ein Spielsystem wiederum ganz gut, eine Flexibilität zu gewährleisten.

Gumbrecht: Wobei natürlich, wenn man heute schon so schön Spielsystem sagt, das ist schon ein Problem. Wissen Sie, bis in die 30er gabs noch gar keine Trainer. Der Kapitän oder die Kapitänin, obwohl damals gabs noch keine Kapitänin, der Kapitän war ursprünglich derjenige, der der Mannschaft in der Halbzeit gesagt hat, wie sie spielen sollen. Bei der Weltmeisterschaft 1930 gabs noch keine Trainer. Wenn sie sich Dokumente anschauen, von den Olympiaden 24, 28 und dann 30, dass war sehr sehr schön. Das war so langsam, dass es einem fast auf die Nerven geht heute. Einer der großen Spieler war ein schwarzer Spieler von Uruguay, der hieß Andrade, der konnte manchmal richtige Jonglierkunststücke machen. Der wusste natürlich, dass ihn gleich einer angreift, in zwei Sekunden hätte man das gemacht, aber das erzählt von einem anderen Spiel, einer anderen Ästhetik. Wirklich sehr sehr schön.

Spielfeldschnitte: Das würde heute nicht mehr passieren.

Gumbrecht: Vor allem, selbst wenn es irgendeiner könnte, würden sofort diese Rationalitätsfanatiker sagen, dass ist ja ganz furchtbar. Die Leute reden ja auch über Fußball ständig wie über die Börse. Ich krieg dann oft: Sie sind ja ein Romantiker. Ja, was denn sonst? Ich meine, ich geh doch nicht zum Sport, oder zum Fußball um dasselbe zu sehen, was mich die ganze Woche schon langweilt. Sicher gibt’s einen Rationalitätsdruck. Wo habe ich das gehört, das war ein hämischer Kommentar bei dem Real Madrid gegen Lyon Spiel. Wo Madrid ausgeschieden ist. In der ersten Halbzeit hat Madrid ganz wunderbar gespielt und vor allem der Christiano Ronaldo war ganz großartig, also wirklich spektakulär. Und dann sagt dieser blöde Kommentator: Brotlose Kunst. Ja, also wenn man kein Tor schießt ist`s brotlose Kunst. Da muss ich sagen, so gut die Bayern sind, ich seh lieber eine Halbzeit Christiano Ronaldo als ein ganzes Spiel Ribery und Robben. Auch wenn die beiden sehr gut sind oder spektakulär sind. Christiano Ronaldo ist schon ästhetisch was. Aber Brotlose Kunst. Kein Tor schießen ist Brotlose Kunst. Ivica Olic, der ist irgendwie sympathisch und hat was schlitzohriges und er ist ein guter Einkauf von Bayern gewesen, aber ich geh doch nicht wirklich für 90 Euro in die Allianz Arena um den spielen zu sehen. Und ich muss noch mal sagen, ich weiß vielleicht nicht enorm viele Namen im Frauenfußball, aber ich geh gerne hin. Ich überleg mir zum Beispiel, ob ich zur Fußballweltmeisterschaft nach Deutschland komme.

Spielfeldschnitte: Ach wirklich?

Gumbrecht: Ja, wirklich. Ich war keine Sekunde in Versuchung geführt zu dieser Weltmeisterschaft 2006 zu kommen und ich könnte mir vorstellen, dass ich zu der Frauenweltmeisterschaft komme.

Spielfeldschnitte: Das ist aber schön!

Gumbrecht: Ich hoff ja nur Sie denken nicht, ich will mich einschmeicheln.

Spielfeldschnitte: Nein, ich frag mich nur, ob sie, als Stadionliebhaber, nicht auch ein bisschen Angst davor haben, da die Werbung für die Weltmeisterschaft 2011 stark auf „Familienfreundlich“ gepolt ist und auf die angenehme Atmosphäre.

Gumbrecht: Schrecklich.

Spielfeldschnitte: Das Stadionerlebnis also so ein bisschen versucht umzudrehen.

Gumbrecht: „Muttihaft“. Ja, bei uns ist das ja auch schon so, auch im Männerfußball. Da gibt es gibt den Begriff „Soccer-Mum“: man geht zum Spiel und dann gibt’s Picknik und so. (lacht) Vielleicht müssen dann raue Fans wie ich kommen. Old Trafford-getauft. Das ist richtig, das möchte ich nicht. Wobei ich sagen muss, schon jetzt die Männerweltmeisterschaft 2006 war mir schon viel zu kuschelig in der Hinsicht. Ich erinnere mich da in Weimar sah ich plötzlich brasilianische und englische und portugiesische und deutsche Fans Arm in Arm durch die Stadt laufen. Das hat mir nicht gefallen, muss ich sagen. Während in Wien bei der Europameisterschaft beim Spiel Kroatien gegen die Türkei sind die nicht Arm in Arm durch die Stadt gelaufen. Das hab ich viel schöner gefunden (lacht). Es geht auch nicht um die Sau rauslassen. Aber irgendeine Intensität die sich auch physisch artikulieren kann, also eine gewisse Spannung im Stadion schafft, das finde ich besser ... ich meine, man muss sich ja nicht erschießen nachher, aber ... wenn Sie sagen wollen, dass es jetzt im Stadion schön ist, und es ist eigentlich wie ein großes Picknick, dass das Ihnen nicht gefällt, dann sind wir uns total einig. Man muss ja trotzdem nicht auf dasselbe wie bei den Männern setzen. Ich weiß nicht, wenn ich jetzt die PR für die Fifa für die Weltmeisterschaft machen würde, würde ich mir überlegen, wie ich auf Ästhetik setzen kann. Sie sehen da Sachen und Sie sehen da Spielzüge und Sie sehen da Tricks, die Sie beim Männerfußball kaum mehr sehen. So darauf würde ich setzen. Das kann dann noch mal eine andere Atmosphäre sein. Aber diese Alternativen, entweder die Dortmunder welche Kurve immer, oder das Picknick, die finde ich unfruchtbar für den Frauenfußball.

Spielfeldschnitte: Ästhetik ist dabei natürlich auch ein sehr ...

Gumbrecht: ... störungsanfälliger Begriff.

Spielfeldschnitte: ... oder ein schmaler Grat zwischen einem Zugang, den man im Frauenfußball eigentlich auch ein bisschen vermeiden will. Das runterzubrechen auf Äußerlichkeiten.

Gumbrecht: Nee, das meine ich ja nicht.

Spielfeldschnitte: Das Sie das nicht so meinen, dass verstehe ich. Aber es ist interessant, dass Sie auf Ästhetik setzen würden, weil ich mir den Umgang mit dem Begriff extrem schwierig vorstelle. Zumal wenn das von der Fifa aus schon zum größten Teil passiert, dass Attribute, wie eine gute Frisur oder schöne Fingernägel oder Glamour, sehr in den Vordergrund gestellt werden.

Gumbrecht: Wirklich? Das wusste ich nicht, das ist ja furchtbar. Also ich hab nichts gegen schöne Frauen, aber das ist ja entsetzlich.

Spielfeldschnitte: Das ist halt so schade, weil es schnell in den Vordergrund tritt. Ich kenn das zum Beispiel aus Amerika nicht so. Da hatte ich das Gefühl, dass das Selbstverständnis ein ganz anderes ist. Das man sich gar nicht erstmal Äußerlich oder Körperlich festsetzen muss.

Gumbrecht: Es ist ja sowieso schön, wenn es gut ist. Nein, das ist ja entsetzlich, das wusste ich nicht. Um diese Frage zu diskutieren, ich würde natürlich jetzt nicht in die Veltins Arena gehen und den Fans zurufen: Ihr seid alle große Ästheten. Da würden die mir ganz schön heimleuchten. Ich würde jetzt auch nicht sagen: Kommen Sie wegen der Ästhetik. Aber das ist irgendwie Tabuisiert. Das klingt auch sehr akademisch. Aber das bedeutet ja nicht, dass man es nicht so präsentieren kann. Es fängt ja schon mit den Plakaten an. Wenn Sie ein Plakat machen für die Weltmeisterschaft, da sind immer diese blöden langweiligen Fahnen zu sehen. Es könnte ja auch ein Plakat mit einer fantastischen Bewegung sein, die sehr weiblich aussieht. Oder sehr androgyn. Oder was auch immer. Aber die anders aussieht, als das, was man normalerweise sieht.

Spielfeldschnitte: Ich habe da eine weiterführende Frage. Ich weiß, Sie haben an anderer Stelle schon mal gesagt, dass Sie die Medienwissenschaft in Deutschland auch sehr schwierig finden, aber das ist ja tatsächlich auch gerade was den Fußball im Allgemeinen, und dann auch den Frauenfußball im Speziellen ....

Gumbrecht: Von wo sprechen Sie eigentlich?

Spielfeldschnitte: Hamburg.

Gumbrecht: Hamburg.

Spielfeldschnitte: Ja, leider ja nicht bei der WM vertreten als Spielort.

Gumbrecht: Tatsächlich?

Spielfeldschnitte: Tatsächlich, ja, weil das HSV Stadion für zu groß befunden wurde. Es wäre dann vielleicht zu leer geworden.

Gumbrecht: Was ist denn das zentrale Stadion für die WM?

Spielfeldschnitte: Frankfurt.

Gumbrecht: Frankfurt. Na ja, ist nicht schlecht. Aber ist Hamburg soviel größer?

Spielfeldschnitte: Na ja, ich glaube das Argument war da auch eher, dass Frankfurt natürlich im Frauenfußball eine größere Rolle spielt.

Gumbrecht: Außerdem liegt Frankfurt natürlich ideal.

Spielfeldschnitte: Und durch den FFC Frankfurt oder damals den FSV ist dort eine große Interessensgemeinschaft ansässig.

Gumbrecht: Ja, das liegt echt perfekt. Letztes Jahr habe ich die Ehrendoktorwürde der Universität Marburg bekommen. Da sind echt alle meine Freunde aus Deutschland gekommen. Und dann habe ich eine in Greifswald gekriegt, da kam kein Mensch. Also das spielt auch eine Rolle. Nach Frankfurt, das ist von nirgends sehr weit. Das liegt schon sehr günstig. Aber Entschuldigung, jetzt habe ich Sie unterbrochen.

Spielfeldschnitte: Nein, das macht überhaupt nichts. Die Frage richtet sich nach dem Umgang von Frauenfußball und Medien. In größeren Stadien gibt es mittlerweile immer die Handhabung, dass man das Publikum möglichst auf die Tribüne gegenüber der Kameras verteilt, damit das im Fernsehen nett aussieht. Und dazu kommt, was Sie ja auch stört, eine Überkommentierung im Fernsehen, ...

Gumbrecht: Ja, wahnsinn.

Spielfeldschnitte: ... da fehlt mir zum Beispiel auch ein bisschen etwas, was den Frauenfußball als was Eigenes definiert.

Gumbrecht: Ja, Sie bräuchten zum Beispiel etwas, was unverwechselbar ist im Frauenfußball. Da müsste man sicher erst lange reden, was das ist, was das potentiell sein könnte. Aber das man sich darauf konzentriert. Nicht ausschließlich. Sicher gibt es Sachen, die beim Frauen- wie beim Männerfußball interessant sind, sowieso. Aber das man nicht dauernd diese Analogieschablone über den Frauenfußball legt. Das finde ich sehr wichtig. Zu sagen, man geht da hin, weil man das Spiel sehen will und weil man die Spielerinnen sehen will und wie die spielen. Und nicht, die sind schon fast so gut wie Messi, oder so, das ist ja Unsinn.

Spielfeldschnitte: Aber würden Sie auch sagen, dass so eine Reizüberflutung durch eine Medienpräsentation auch eher dem kreativen Potential, oder dem ästhetischen Ausmaß abträglich ist?

Gumbrecht: Ja, das haben Sie wahrscheinlich nicht übersehen, mir ist es sehr wichtig Live Sport zu sehen. Nicht nur Fußball. Es ist eine andere Geschichte und das habe ich im Fernsehen nicht. Es ist natürlich auch schwer zu vermeiden, weil, klar, es muss irgendeinen Wortbeitrag geben und dann blenden sie irgendwas ein. Auch viel Unsinn, die Ballbesitzstatistiken, die brauche ich eigentlich nicht. Es bringt ja nichts. Es ist ja überraschend, die eine Mannschaft hat dauernd den Ball gehabt und liegt trotzdem zurück. Dortmund hat glaub ich 73 Prozent Ballbesitz gehabt letzte Woche in Mainz und trotzdem verloren. Ich bin eigentlich deswegen gegen diese vielen Wortbeiträge. Ich habe sogar die Medienwissenschaften mit angestoßen in Deutschland. Da gab`s einen Band, „Materialität der Kommunikation“, 1987, der hat so einen gewissen Einfluss gehabt. Aber ich denke das Thema ist auf eine Weise überdreht worden, so dass man jetzt dauernd über die medialen Bedingungen und über Vermittlung und so weiter spricht. Als gäb`s sozusagen nichts Genuines bei der ganzen Sache. Wenn nicht gespielt wird auf dem grünen Rasen, wie Sepp Herberger gesagt hätte, dann lässt sich auch medial wenig holen. Sonst könnte alles durch Nintendo ersetzt werden. Und das ist ja nicht so. Es wär natürlich toll, wenn man so eine Kultur hätte, für andere Stadien für die Frauen. Das wär doch toll, wenn irgendeine Architektin zum Beispiel, eine Super-Architektin hätte, oder auch ein Super-Architekt aber könnt ja auch eine Super-Architektin sein, hätte jetzt mal versucht, ein Stadion zu bauen, das etwas anders ist für die Frauenweltmeisterschaft. Nicht für Picknick, aber eine andere Art, das wär sehr interessant.

Spielfeldschnitte: Vielleicht ist das jetzt auch zu weitläufig, aber könnten Sie noch mal versuchen zu beschreiben, was für Sie das Besondere am Frauenfußball ist?

Gumbrecht: Ja, sicher. Dadurch, dass der physische Druck nicht ganz so groß ist - also ich sage ja nicht, dass sie nicht tolle Sportlerinnen sind - aber insgesamt, ich meine jetzt nicht jede einzelne Spielerin, sondern wenn sie das Physiopotential der 22 Leute auf dem Feld sehen. Dadurch das die Möglichkeit des Störpotentials nicht so beständig präsent ist, individuelle Initiativen - und zwar jetzt nicht nur, dass irgendeine Frau dauernd dribbelt, sondern ein überraschender Pass, der nicht vorgesehen ist, im Spielsystem, zu schlagen - dass das im Prinzip größer ist. Ich sehe sozusagen mehr Situationen, die ich attraktiv finde. Ich denke, dass die Möglichkeit schöner Spielzüge sich zu entfalten beim Frauenfußball größer ist. Das ist die zentrale Formel. Das kann man in vielen Hinsichten ausweiten und weiter Assoziieren. Etwa im Basketball ist die Analogie, da hat man immer gesagt, die sind nicht ganz so schusssicher. Also weil’s nicht ganz so viele ganz große Spielerinnen gibt. Und das heißt, dass plötzlich der überraschende Pass eine größere Rolle im Frauenbasketball spielt. Jemanden in der Zone freispielen, zum Beispiel. Während wenn zum Beispiel in der NBA eine Mannschaft eine gute Abwehr hat, können sie das vergessen, dann müssen sie alles 3-Punkter spielen. Da hat halt die andere Mannschaft genug Spieler, die so spielen und nur noch 3 Punkte schießen, aber das ist es dann. Der Frauenbasketball hat sich anders entwickelt, also mehr als ein Spiel des schnellen Passes, des überraschenden Passes. Auch zum Teil individuelle Initiative, dass eine dann in die Zone reingeht und bis zum Korb kommt, das ist eigentlich eine Analogie. Die Stanford Trainerin ist sehr berühmt, Tara VanDerveer, die trainierte auch die Olympia Mannschaft. Die hat auch in Interviews gesagt, dass sie völlig versucht das Potential dieses Spiels in genuiner Weise zu entwickeln. Es ist anderes Spiel geworden. Es ist immer noch Basketball. Aber es ist anders.

Das Gespräch führte Rosa Wernecke

6 Kommentare:

  1. Interviews muss man redigieren, nicht einfach das gesprochene Wort abtippen. Das ist ja furchtbar! Wer soll das lesen?

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  2. Hallo JK,
    das Interview ist redigiert. Ich habe einiges bewusst drin gelassen, um den Ton, den ich sehr mochte, vielleicht etwas beizubehalten.
    Wenn sich herausstellen sollte, dass das Lesen für viele zu schwierig ist, denke ich aber noch mal darüber nach.
    Gruß! Rosa

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  3. Ich find das Interview gut so wie es ist. Es hat irgendwie Stil. Eine persönlichere Note. Der Mann is mir nur durchs Lesen sympathisch *g*

    Danke für Interview, sehr interessant.
    Ich bin übrigens auch der Meinung, dass Männerfußball immer langweiliger wird. Alles viel zu vorhersehbar und zu geschlossen.

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  4. gutes interview - jetzt verstehe ich den transkribieren-stress :). der wehrte herr kommt auf jeden fall als ein vollsympath rüber, auch wenn er am schluss zus schnell wieder über Basketball redet; da ich mir gerade viele andere interviews zu Fußball angehört habe, war das sehr angenehm. viel, aber nicht zu viel. gruss

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  5. Ich stimme (als Mann) voll zu, dass Männerfußball langweiliger ist. Eine simple Regeländerung könnte dem abhelfen: Schafft die Abseitsregel ab! Dann gibt es wieder mehr Platz auf dem Spielfeld und das One-Touch-Gegurke auf engstem Raum hört auf.

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